Erst seit zwei Jahren ist die gemeinsame Obsorge der Eltern nach Scheidung oder Trennung der gesetzliche Normalfall. Sie ist aber nicht konsequent ausgeführt, eine wirklich gleichteilige und gleichverantwortliche Betreuung des Kindes ist nicht möglich. Weil vom Gesetzgeber keine Änderung zu erwarten ist, preschen nun die Gerichte quasi rechtspolitisch vor. Es gibt Obsorgeentscheidungen gegen das Gesetz, der VfGH prüft nun, ob das Verbot der Doppelresidenz allenfalls verfassungswidrig ist.
Das christlich geprägte Modell der Ehe, bei welchem miteinander verheiratete und in gemeinsamem Haushalt lebende Eltern gemeinsam die Pflege, Erziehung und Vermögensverwaltung ihrer Kinder ausüben, ist schon lange nicht mehr deralleinige gesellschaftliche Regelfall. Die Lebensentwürfe sind vielfältig, Kinder werden außerehelich geboren, von einem Elternteil alleine aufgezogen, Ehen werden geschieden. Für alle diese Fälle muss der Gesetzgeber regeln, wer auf welche Weise für die Obsorge der Kinder zuständig ist.
Noch vor wenigen Jahren haben die einschlägigen Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches eine klare Zuordnung der Verantwortung in allen Lebensformen außerhalb der Ehe an einen Elternteil vorgesehen. Erst mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001 wurde die gemeinsame Obsorge beider Elternteile auch im Falle der Trennung als Möglichkeit vorgesehen. Und erst seit 1.2.2013 ist die gemeinsame Obsorge nach Scheidung der vom Gesetzgeber vorgesehene Regelfall.
Die bestehende Rechtslage in Österreich ist in dieser Hinsicht aber nach wie vor „halbherzig“:
Sind die Eltern zur Zeit der Geburt eines Kindes nicht miteinander verheiratet, ist allein die Mutter mit der Obsorge betraut. Die Eltern können (müssen) durch Erklärung gegenüber dem Standesbeamten bzw. bei späterer Änderung durch Vereinbarung vor Gericht die gemeinsame Obsorge festlegen (§ 177 ABGB).
Bei Auflösung der Ehe oder der häuslichen Gemeinschaft bleibt zwar grundsätzlich die gemeinsame Obsorge beider Eltern aufrecht (§ 179 ABGB).
In jedem Fall der gemeinsamen Obsorge muss aber festgelegt werden, bei welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich aufhalten soll. Es muss also ein „Heim erster Ordnung“ festgelegt werden.
Bei dieser Rechtslage ist daher eine sogenannte Doppelresidenz, also ein gleichteiliger Aufenthalt des Kindes (abwechselnd) bei beiden Elternteilen ohne Festlegung eines bevorzugten Domizils, nicht möglich, ja sogar gesetzeswidrig.
Dieses faktische Verbot der Doppelresidenz wird sowohl in der Fachwelt als auch unter den betroffenen Eltern heftig diskutiert. Ein Blick über die Grenzen hinweg zeigt, dass Österreich in diesem Bereich der Rechtsentwicklung hinterherhinkt. In vielen Ländern Europas gibt es inzwischen die Doppelresidenz, in Belgien ist sie sogar der vom Gesetzgeber vorgesehene Regelfall.
Weil vom österreichischen Gesetzgeber derzeit aber offenbar keine Änderung zu erwarten ist scheinen nun die Gerichte vorzupreschen:
Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien hat bereits vor einem Jahr eine erstinstanzliche Entscheidung, in der eine – in der Praxis bereits seit vielen Jahren gelebte – Doppelresidenz zumindest im Rahmen einer einstweiligen Obsorgeregelung für zulässig gehalten wurde, bestätigt (42R321/14p). Und eben dieses Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien hat im März dieses Jahres aus Anlass eines weiteren bei ihm anhängigen Falles den Verfassungsgerichtshof angerufen, um die Rechtmäßigleit des Verbots der Doppelresidenz aus verfassungsrechtlicher Sicht prüfen zu lassen. Eine endgültige gerichtliche Festlegung einer Doppelresidenz gegen den ausdrücklichen Gesetzeswortlaut war im Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien offenbar doch zu viel.
Das Bezirksgericht Salzburg, das sich auch im Falle der gemeinsamen Obsorge schon als Vorreiter gezeigt hat, ist nun einen Schritt weiter gegangen und hat in einer Obsorgeentscheidung die Doppelresidenz eines Kindes bei beiden (heftig streitenden) Elternteilen angeordnet. Das Bezirksgericht Salzburg ist der Meinung, dass durch die gerichtliche Anordnung der Doppelresidenz Streitpotenzial für die Eltern beseitigt und gleichzeitig vom Kind der Druck genommen wird, sich für einen Elternteil entscheiden zu müssen.
Diese Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, das Rechtsmittel behängt beim Landesgericht Salzburg, weil möglicherweise der Anlassfall für eine derartige Doppelresidenz nicht besonders gut geeignet ist.
Man darf auf die weitere Entwicklung in dieser Angelegenheit gespannt sein. Letztlich wird sich aber auch der Gesetzgeber der gesellschaftlichen Realität nicht verschließen können und zumindest die Möglichkeit einer Doppelresidenz vorsehen müssen.
Eine funktionierende Doppelresidenz kann zweifellos für das Kind die vorteilhafteste Lösung sein, wenn beide Eltern die Verantwortung für das Kind tatsächlich gemeinsam ausüben wollen und trotz Trennung ein Mindestmaß an Kommunikation aufweisen. Voraussetzung einer Doppelresidenz ist natürlich auch eine räumliche Nähe des Wohnsitzes beider Eltern, da ja von beiden Wohnsitzen aus Schule und andere vom Kind regelmäßig besuchte Einrichtungen erreichbar sein müssen. Ob aber durch eine gerichtlich angeordnete Doppelresidenz bei miteinander heftig streitenden und kaum miteinander kommunizierenden Eltern tatsächlich auch dem Kindeswohl entspricht, wird wohl bezweifelt werden müssen.
21.09.2015
Dr. Michael Gärtner